Der Traum ist aus
Couchsurfing sollte Urlaub von Freunden bei Freunden ermöglichen. Es wurde zur Sexfalle.
Couchsurfing sollte Urlaub von Freunden bei Freunden ermöglichen. Es wurde zur Sexfalle.
DIE FAKTEN
Von Cecilia Anesi, Giulio Rubino, Alessia Cerantola (IRPI) und Ariel Hauptmeier (CORRECT!V)
Couchsurfing. Das war einmal eine gute Idee: Umsonst reisen und bei coolen Leuten übernachten, die man übers Internet getroffen hat. Daheim sein in der Fremde, mit wenig Geld durch die Welt. Steckt sie nicht voller Freunde, die man noch nicht getroffen hat? Und wirklich, eine Weile hat das auch prächtig funktioniert.
Dann wuchs die Community. Wurde aus dem gemeinnützigen Idealisten-Projekt ein profitorientiertes Start-Up, mit 10 Millionen Nutzern. Mischten sich unter die noch immer vielen Wohlmeinenden zunehmend die Knauserer, die einfach nur Geld fürs Hostel sparen wollten, und die Freizeit-Casanovas, einzig aus auf einen schnellen Flirt. Bald kursierten im Internet Anleitungen, wie Männer Couchsurferinnen rumkriegen – und Erfahrungsberichte, wie die jungen Frauen im Bett waren. Immer wieder war nun von Übergriffen auf weibliche Reisende zu lesen, in Foren und in Blogs, und hier und da tauchten Berichte auf von Vergewaltigungen, bei Gastgebern aus England und Frankreich, China und den USA, Norwegen und Indien, Neuseeland und Spanien.
Und nun kommt der Fall Dino M. Eine Zäsur. Hunderte Couchsurferinnen beherbergte der Polizist aus Padua. 16 hat er vergewaltigt. Vielleicht aber auch noch Dutzende weitere. Junge Frauen aus Deutschland und Polen, Portugal und den USA. Sie glaubten seinem Online-Profil. Vertrauten ihm, weil er Polizist war. Vertrauten den netten Bildern, den positiven Kommentaren. Und am nächsten Tag lagen sie elend und lethargisch da, und wussten nicht warum, und ihnen fehlte jede Erinnerung.
Irena
Vivian
Catherine
Leonardo „Dino“ M.
Der Fall Dino M. wirft ein neues Licht auf das Prinzip Couchsurfing. Er entblößt die lächerlichen Sicherheitsvorkehrungen der Firma, die nicht in der Lage sind, noch die verrücktesten Psychopathen herauszufiltern. Plötzlich wirkt es sehr leichtsinnig, Menschen Vertrauen zu schenken, nur weil sie von anderen positiv bewertet wurden.
Der Fall zeigt auch, wie wehrlos Opfer sind, wenn ihnen K.O.-Substanzen in ihren Wein gemischt werden. Und wie schwer es ist, eine Vergewaltigung anzuzeigen, wenn sie ohne körperliche Gewalt vonstatten ging.
Das Haus von Dino M. in Padua. Hier lebt er im ersten Stock.
Am Nachmittag des 18. März 2014 wurde Dino M. endlich verhaftet. In der Nacht zuvor hatte er sich an einer 16-jährigen australischen Schülerin vergangen, während ihre Mutter und ihre jüngere Schwester im Nebenzimmer schliefen. Die Familie war seit zwei Tagen bei M. zu Gast. Wie stets spielte ihm in die Karten, dass er in Padua wohnte, vor den Toren Venedigs, wo die Unterkünfte teuer und die Couchsurfing-Angebote rar sind. Und wer käme schon auf die Idee, dass ein Carabinieri einer Mutter und ihren beiden halbwüchsigen Töchtern ein Leid antun könnte?
Die erste Nacht verlief ohne Zwischenfälle, M. überließ den drei Damen sein Bett, er selbst schlief im Gästezimmer der geräumigen Zweizimmerwohnung. Am Tag darauf besichtigten die drei Australierinnen Venedig. Als sie gegen 19 Uhr in das Apartment zurückkamen, trug M. noch seine Uniform. Später kochte er Pasta mit Pesto und servierte Weißwein, die 16-jährige Tochter – nennen wir sie Catherine, alle Namen der Opfer sind fiktiv – trank ein Glas mit. Catherine blieb auch am Küchentisch sitzen, als ihre Mutter und Schwester gegen 21 ins Bett gingen, und plauderte weiter mit M.
Als die Mutter am nächsten Morgen aufwachte, lag Catherine nicht neben ihr. Sie war auch nicht in der Küche. Auch im Bad war sie nicht. Die Mutter betrat das Zimmer des Gastgebers. Dort fand sie Catherine neben M. auf dem Bett liegen, angezogen, in den gleichen Kleidern wie am Abend zuvor. Die Mutter versuchte, ihre Tochter zu wecken, es gelang ihr nicht, Catherine war wie betäubt. Ihre Mutter trug sie hinüber ins Nachbarzimmer und legte sie aufs Bett. Dort bemerkte sie, dass Catherine keine Unterwäsche trug.
Hastig begann die Mutter zu packen, fluchtartig verließen die drei das Haus, fluchtartig verließen sie Padua, aus Angst, die dortige Polizei könne M. decken. Erst in Venedig betraten die drei Australierinnen ein Kommissariat und erstatteten Anzeige wegen Vergewaltigung. Catherine konnte sich, anders als viele ihrer Vorgängerinnen, an fast alles erinnern und erzählte den Beamten, während ihre Mutter vor der Tür wartete, von ihrem Martyrium:
M. habe ihr Rotwein angeboten und später einen Baileys, cremig und süß. Kurz darauf sei ihr schwindlig geworden, sie seien hinaus auf die Straße gegangen, zu einer Dönerbude. Dort habe sie sich übergeben müssen. Zurück in der Wohnung, sei sie aufs Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Sie kam zu Bewusstsein, als M. begann, ihr die Hose auszuziehen. Aber sie konnte sich nicht wehren, sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte kaum die Augen aufhalten, so, wie sie war, vollständig sediert… und musste hilflos zusehen, wie M. sie missbrauchte, erst mit seiner Zunge, dann mit seinem Geschlecht.
Wollen sie noch etwas hinzufügen?, fragten die Beamten. Ja, sagte Catherine. Sie wünsche, er werde bestraft. Sie sei doch erst 16.
Die Beamten rückten aus, um M. festzunehmen und seine Wohnung zu durchsuchen. Sie fanden Catherines Unterwäsche und ein benutztes Kondom. Sie fanden aber noch mehr: eine nicht registrierte Pistole vom Typ Bernardelli 6.35, 40 Pillen des Tranquilizers „Tavor“, einen Dildo und einen Vagina-Stimulator, versteckte Kameras und unzählige Megabyte Pornographie, darunter zwölf Filme, die sexuelle Akte mit Kindern zeigen. Und acht Bilder einer toten Frau. Gerade so, als erregte ihn dieser leblose Körper.
M. gestand die Tat. Ja, er habe Sex mit Catherine gehabt. Aber sie habe es doch gewollt, sie sei ja ohne Unterwäsche zu ihm ins Bett gestiegen. Und es habe ihr gefallen. Er gab zu, ihr „Tavor“ in den Baileys gemixt zu haben. Einfach so. Warum, das könne er nicht sagen. Da sei er wirklich ein Idiot gewesen.
So sah ein Couchsurfing-Profil von Dino M. aus. Er legte sich verschiedene Profile an.
Wir wissen nicht, wann sein schändliches Treiben begann. Die ersten Couchsurferinnen beherbergte er, als er noch seine brasilianische Freundin hatte, Gisell, sechs Jahre waren sie zusammen. Schon damals muss M. besessen gewesen sein vom Thema Sex. Er drehte einen Amateur-Porno mit ihr, zusammen richteten sie ein Profil ein auf der Swinger-Seite mysexydating.net, um nach Gleichgesinnten zu suchen für „Gruppensex, Oralsex, Analsex“. Seine Beschäftigung gab er an mit „Gesundheitsdienst“, seine Penisgröße mit „sehr groß“.
Später war Schluss mit der Brasilianerin, und irgendwann, wohl Anfang 2013, muss er die Sache mit dem K.O.-Pulver herausgefunden haben. Bei Catherine nutzte er „Tavor“, das belegte ein Bluttest, es ist wahrscheinlich, dass er es bei allen Opfern verwendete.
Wenn Sie selbst Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sind, können Sie mit uns Kontakt aufnehmen. Gerne auch über unsere anonyme Kontaktseite.
„Tavor“ gehört zur Familie der Benzodiazepine, sein Bruder heißt Valium. „Tavor“ kann, je nach Dosierung, die Stimmung heben, entspannen, einschläfern, das Kurzzeitgedächtnis blockieren und jemanden vollständig sedieren. Epileptiker bekommen den Tranquilizer, Menschen, die einen Alkoholentzug machen oder unter Panikattacken leiden, genau wie Gebärende und Menschen auf dem Sterbebett.
„Tavor“ wird nur langsam im Körper abgebaut, die Halbwertszeit liegt bei elf Stunden, mindestens. In Deutschland ist es eines der am meisten verschriebenen Psychopharmaka und fällt ab einer gewissen Dosierung unter das Betäubungsmittelgesetz. Man kann schnell davon abhängig werden. So wie einst Uwe Barschel, der seine viele Angst mit immer höheren „Tavor“-Dosierungen bekämpfte.
Anita, 21 Jahre alt, aus Minnesota, muss eines der ersten Opfer von Dino M. gewesen sein. Am 27. März 2013 klingelte sie gemeinsam mit einer deutschen Freundin an seiner Tür. „Ich war aufgeregt“, gab Anita später zu Protokoll, es war ihr erstes Couchsurfing-Erlebnis, „er wirkte so nett.“ Am ersten Abend nahm M. die beiden mit in eine Diskothek, trank viel zu viel und versuchte Anita zu küssen. Sie hielt es für „der Kultur angemessen“. Sie machte sich keine Sorgen.
Am nächsten Tag zeigte M. ihnen Padua und lud sie mittags zum Essen in ein Restaurant ein. Abends, Anita war verschnupft, gab er ihr einen „Erkältungstrunk“, und ab da erinnert sie sich an nichts mehr. Nicht daran, was M. in der Nacht mit ihr machte, noch dass er sie am nächsten Morgen ohrfeigte, um sie zu wecken. Nicht an die Fahrt zum Flughafen oder wie sie durch die Sicherheitskontrollen kam, nicht an die Fahrt zum Apartment in Rom, wo sie wie tot einschlief. Nur Erinnerungsfetzen tauchten auf aus dem Nebel jenes Tages – etwa wie sie auf dem Flughafen von rom in einen Mülleimer kotzte, einen ekligen, giftgrünen Schwall.
Eine negative Bewertung auf M.s Couchsurfing-Profil hinterließ sie nicht. Sie wusste ja nicht, warum es ihr plötzlich so dreckig gegangen war, das begriff sie erst viel später. Und abgesehen davon war er ja ein charmanter Gastgeber gewesen.
Auf Anita folgte Carmen, ebenfalls aus den USA. Sie musste mitansehen, wie er sie vergewaltigte, wohl deshalb, weil sich M. erneut in der zweiten Nacht an ihr verging, da lag sie schon komatös 30 Stunden darnieder. Carmen musste zusehen, wie er die Hand in ihren Pyjama schob, erst ihren Bauch, dann ihren Unterleib streichelte, und sie erst mit seiner Zunge missbrauchte, dann mit seinem Geschlecht. Sie wollte ihn stoppen, aber auch sie konnte es nicht, nicht einmal festhalten musste er sie.
Verwirrt, desorientiert, nicht Herrin ihrer Sinne reiste sie ab – und erstattete vier Tage später, zurück in London, Anzeige gegen M. Scotland Yard leitete die Anzeige weiter nach Italien. Dort wurde sie nicht weiter verfolgt. Warum auch immer.
Und so konnte ein der Vergewaltigung angeklagter 36-jähriger Mann weiter ein Couchsurfing-Profil betreiben und reihenweise junge Frauen in seiner Wohnung empfangen.
Dino M., der Polizist, bat seine Opfer, sich mit ihm auf Facebook zu befreunden.
Denn das war nur der Anfang. Mitte Juli, als Oliwia und Marzena aus Polen bei ihm übernachteten, hatte sich M. gerade ein neues Profil zugelegt, wegen „zu vieler positiver Kommentare“.
Anfang August kam Marcia aus Portugal, zusammen mit zwei Freundinnen.
Am 25. August waren Chunhua und JinJing aus Hongkong zu Gast.
Sie begegneten Emma, aus den USA, und ihrer Freundin Vivian, aus Deutschland.
Am 6. September übernachteten Irena, Tatana und Dusa aus Tschechien im Bett des Serienvergewaltigers.
Vivian kommt aus der Nähe von Hamburg und war nach eigener Aussage eines der Opfer von Dino M. Lesen Sie hier Vivians detaillierte Zeugenaussage. Alle zwölf von uns gesammelten Zeugenaussagen lesen Sie bald hier in voller Länge auf englisch.
Und das sind nur jene, von denen wir wissen. Allein diese 15 trafen 15 weitere Couchsurferinnen, die bei M. wohnten. In den Wochen dazwischen dürfte M. Dutzende, vielleicht Hunderte weiterer Couchsurferinnen beherbergt haben – und sich an vielen von ihnen vergangen haben. Allein als die drei Tschechinnen bei ihm wohnten, waren insgesamt elf junge Frauen zu Gast, darunter eine junge Frau aus Uruguay, elend und schlapp.
M., ein schmächtiger, 1,70 Meter kleiner Mann, mit kurzrasierten, schwarzen Haaren und schwarzen Tribal-Tattoes auf beiden Armen, nahm im Verlauf jenes Sommers immer mehr die Züge eines Psychopathen an. Zu Anfang hatte er noch mit seinen Besucherinnen geflirtet, ihnen die Stadt gezeigt, sie ausgeführt. Nun war er immer fahriger gestresster, aggressiver. Er schrie seine Mutter an, die manchmal bei ihm wohnte, er schrie die Couchsurferinnen an, wenn sie zu spät nach Hause kamen.
Abends nahm er sie oft mit in eine Diskothek, wo er sich hemmungslos betrank, ehe er in seinem schwarzen Alfa Romeo mit ihnen nach Hause raste. Erst wenn alle am Küchentisch saßen und er sie nötigte, einen Absacker zu trinken, einen „ganz speziellen, hausgemachten Wein“, entspannte er sich sichtlich. Er wusste sich am Ziel.
Eines von M.s Opfern, in dessen Küche, in der Nähe von Padua.
Häufig trug er gelb-braun-getönte Kontaktlinsen. Sie gaben ihm, fand Emma aus den USA, das Aussehen eines Vampirs. Emma war schon nach Stunden klar, dass sie im Haus eines Freaks gelandet war, alles in ihr rebellierte gegen diesen gestörten Kerl, doch beharrlich „schob sie das Gefühl des Unwohlseins beiseite“. Sie waren ja viele, es waren ja nur einige Stunden, es würde schon gut gehen, vielleicht wäre es unhöflich, den Absacker auszuschlagen.
Noch am nächsten Morgen, als Emma aus ihrem Koma erwachte, sie wusste, dass etwas Schlimmes passiert war und nur noch weg wollte – nötigte M. sie und ihre deutsche Freundin ein Erinnerungsfoto mit ihm zu schießen. Auch das schlug sie ihm nicht aus. Und so gibt es ein Bild, auf dem M. in Bermudas und T-Shirt zwischen zwei hübschen, jungen Frauen auf dem Sofa sitzt, die sich lächelnd bei ihm unterhaken.
Immer wieder betäubte M. mehrere Frauen gleichzeitig. Hier zwei weitere seiner Opfer.
Sieht nett aus. Vertrauenserweckend.
So kann man sich täuschen.
Einmal wurde M. auf dem Rückweg von der Diskothek von einer Polizeistreife angehalten. Er war total betrunken und hatte das Auto voll junger Frauen. Die Beamten maßen nach. Ein Promille. Und ließen ihn fahren, den Kollegen.
Immer rücksichtsloser wurde M., immer sicherer war er sich. Als Oliwia, die junge Polin, aus ihrer Betäubung erwachte, lag sie nackt in M.s Bett. Neben ihr saß, ein Kreuzworträtsel lösend, M.s Mutter.
Screenshot: couchsurfing.com
Es dauert nur Minuten, sich ein Profil auf Couchsurfing zuzulegen, die Email-Adresse genügt, schon sieht man Leute, die in der eigenen Stadt nach einer Unterkunft suchen. Hat man die ersten Gäste beherbergt und einige positive Kommentare erhalten, ist man bald ein respektierter Couchsurfer.
Das Leben ist bunt, genau wie Couchsurfing-Community. Zahllose liebe, hilfsbereite Menschen tummeln sich hier, das mollige Biker-Ehepaar aus Seevetal etwa, vor den Toren Hamburgs, die abends nicht vor der Glotze hängen, sondern gestrandete Traveller bekochen. Schaut man sich eine Weile unter den Profilen um, meint man bald, ein Gefühl zu entwickeln für das, was die jeweiligen Couchsurfer umtreibt. Der feierwütige Grieche. Die Frau aus Berlin, mittelalt, mittelhübsch, die stets bei Herren übernachten, und am Ende schreiben beide, wie nett die Zusammenkunft war. Flirten gehört zum Reisen, warum denn auch nicht. Und allermeistens geht es gut.
Die Frage bleibt – warum flog M. nicht viel eher auf? Warum schrieben ihm die jungen Frauen – wenn sie sich erinnerten – nicht eine solch gesalzene Bewertung in sein Profil, dass sich nie wieder ein Gast in seine Wohnung verirrte? Warum gingen sie nicht zur Polizei?
Die Antwort ist komplex.
Oliwia aus Polen hatte eine sekundenlange Erinnerung an die Vergewaltigung. Dennoch brauchte sie Tage, bis sie sich so weit gesammelt hatte, dass sie M. über Facebook kontaktierte. Ja, gab er zu, sie hätten Sex gehabt. „Ich fragte ihn, ob ich schwanger sei. Er lachte und versuchte mich zu überzeugen, dass zwischen uns mehr sei, ich sei so süß gewesen. Aber nein, sagte er, ich sei nicht schwanger. Er sei nicht in mir gekommen. Ich fühlte mich wie eine Prostituierte. Ich dachte, nach dieser Sache will mich nie wieder jemand haben. Es tat so weh.“
Auch Marcia, die Portugiesin, brauchte Wochen, ehe sie ihre Sinne wieder beieinander hatte. „Ich spürte, dass etwas Schlimmes passiert war. Ein Missbrauch. Aber meine Erinnerungen kamen mir vor wie ein Traum.“
Erhielt M. einen negativen Kommentar, dann bedrohte er – per Copy and Paste – die Frauen mit diesem Text: „Du bist undankbar. Du übertreibst. Du beschreibst mich als ein Monster. In Italien ist üble Nachrede strafbar. Wenn du deinen Kommentar nicht löscht, werde ich dich den europäischen Behörden melden. Ich bin Ermittler bei der Polizei, ich werde deine Daten weitergeben, und dann wirst du in ganz Europa Probleme bei der Einreise haben.“
Oder legte sich ein neues Profil zu.
YouTube video is not available anymore.
Dass sein Fall schließlich aufflog, in seiner ganzen Dimension, dass M. nicht wegen zwei, sondern wegen 16 Vergewaltigungen angeklagt wird, ist letztlich der Beharrlichkeit von Marcia zu verdanken, der Portugiesin. Sie wollte wissen, was passiert war, sie weigerte sich, es einfach zu verdrängen. „Ich kontaktierte alle Frauen, die M. einen Kommentar hinterlassen hatten, auch wenn sie den Besuch als positiv bewertet hatten. Ich fragte sie, ob etwas Merkwürdiges vorgefallen war. Sie erzählten mir, er habe versucht sie zu küssen, oder sei in ihrem Bett eingeschlafen, oder habe ihnen Medizin gegeben, und plötzlich waren sie ohnmächtig.“
Nun war Marcia klar, dass sie missbraucht worden war – und hinterließ einen negativen Kommentar auf M.s Couchsurfing-Profil. Andere tates es ihr gleich. M. verbarg sein Profil. Wenige Tage später wurde es von den Couchsurfing-Administratoren gelöscht.
Marcia gründete eine Facebook-Gruppe, in der sich die missbrauchten Frauen über ihre Erfahrungen austauschten. Sie beschlossen, in ihren jeweiligen Ländern zur Polizei zu gehen und den Serienvergewaltiger anzuzeigen. Sie wurden alle abgewiesen. Marcia in Portugal, Oliwia in Polen, Tatana in Tschechien. Der Fall liege zu weit zurück, sagten die Ermittler. Es gebe keine Beweise. Es kam zu keiner Anklage.
Marcia ließ nicht locker. Sie kontaktierte das IRPI, das Investigative Reporting Project Italy, das einen Anwalt organisierte, die Aussagen der jungen Frauen zusammentrug und der Staatsanwaltschaft in Padua übergab. Das Verfahren gegen M. wird voraussichtlich im März 2015 eröffnet. Kann man ihm „Serialität“ nachweisen, ist er möglich, dass er eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren erhält.
Auch das Sicherheitsteam von Couchsurfing wurde von Marcia informiert. Über dieses „Team“ ist nichts bekannt. Es kann nicht sehr groß sein. Gut 20 Angestellte hat die Firma insgesamt, die 2011 in das amerikanische Steuerparadies Delaware übersiedelte, 20 Angestellte für 10 Millionen Nutzer.
Nutzer können sich „verifizieren“, indem sie eine Gebühr von gut 20 Euro an Couchsurfing Inc. überweisen. Doch bei dieser „Verifizierung“ wird weder die Identität noch die Adresse überprüft. Tatsächlich ist die „Verifizierung“ lediglich eine Art Premium Service und erzeugt ein falsches Sicherheitsgefühl – trägt aber nichts bei zur Sicherheit der Couchsurfer.
Konfrontiert mit dem Fall M., antwortete Jennifer Billock, die Chefin von Couchsurfing Inc., dass die „Sicherheit unserer Community unser höchstes Anliegen ist. Wir beantworten jede Anfrage zu diesem Thema persönlich und arbeiten, im Rahmen der gesetzlichen Regelungen, mit den Ermittlungsbehörden zusammen.“ Auch der Frage, ob im Fall M. die Sicherheitsvorkehrungen versagt hätten, wich sie aus: „Wir arbeiten ständig daran, unsere Sicherheitsvorkehrungen zu verbessern. Unser engagiertes Sicherheitsteam beantworte jede Nachfrage einzeln.“ Und verwies darauf, was auch auf groß auf der Website steht: „Jeder Couchsurfer ist für seine Sicherheit selbst verantwortlich.“
Das Couchsurfing-Sicherheitsteam versprach Marcia, von nun an „täglich“ darauf zu achten, dass M. keine neuen Profile eröffnet.
Sie waren unaufmerksam.
Ein halbes Jahr später, im März 2014, vergewaltige M. Catherine, die 16-jährige Australierin.
Zu Beginn versuchte M. charmant zu sein, zeigte seinen Opfern erst die Stadt, führte sie aus. Nach einigen Monaten wurde der angebliche Vergewaltiger nervöser und gestresster.
Die Geschichte hat ein weiteres Kapitel. Nach dieser Tat wurde M. verhaftet. Doch sein Anwalt bat, man möge ihn unter Hausarrest stellen, und M. gelobte, die Couchsurfing-Plattform ab sofort nicht mehr anzurühren. Der Untersuchungsrichter gab dem Gesuch statt und legte M. zudem eine Kommunikationssperre auf.
Zehn Tage später rückte der Staatsanwalt aus, um M. in seiner Wohnung erneut zu vernehmen. Er traute seinen Augen nicht: Dino M. saß dort mit zwei Couchsurferinnen, die eine aus Argentinien, die andere aus Armenien. Ihr ging es nicht gut. Sie war seit zwei Tagen bei ihm. Sie erinnerte sich, dass M ihr Rotwein angeboten hatte zum Essen, danach erinnerte sie sich an nichts mehr, und den ganzen nächsten Tag war sie krank.
Seither sitzt Dino M., 36, in Untersuchungshaft.
Sein Anwalt hat auch auf wiederholte Anfrage keine Stellung zu den Vorwürfen genommen.
Couchsurfing. Das war einmal der Wunsch, dass die Welt voll gutmeinender Menschen ist, bei denen man getrost übernachten kann. Ja, es gibt diese Menschen, in großer Zahl sogar. Doch unter ihnen verstecken sich Raubtiere. Mit dem Fall M. hat Couchsurfing seine Unschuld verloren.
Screenshot: couchsurfing.com
Die Zeugenaussagen von zwölf Couchsurfing-Opfern in der
Übersicht:
Vivian aus Deutschland
Anita aus den USA
Chunhua aus Hong Kong
Dusa aus Tschechien
Emma aus Kanada
Irena aus Tschechien
Marcia aus Portugal
Oliwia aus Polen
Sofia aus Portugal
Tatana aus Tschechien
Carmen aus den USA
Catherine aus Australien
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